Panorama

Das “Drei-Monats-Syndrom” – Wenn die Reiselust am Ende ist

Für die meisten Urlauber wird es nie ein Thema sein. Der deutsche “Durchschnittsurlaub” dauert in der Regel zwei Wochen. Dennoch ist es für die, die vielleicht davon träumen interessant zu wissen, dass der endlose Traumurlaub auch seine Schattenseite hat.

Für “Aussteiger auf Zeit” und Langzeittouristen aber, die Jahre auf diese Reise hingearbeitet haben, ist das Phänomen des “Drei-Monats-Syndroms” ein Aspekt, die Reiseplanung vielleicht noch einmal zu überdenken. Auf dass der Traumurlaub auch wirklich zur Traumreise wird.

Irgendein Ort an der tropischen Küste Nordaustraliens.
Ich saß auf der Terrasse eines Hostels und wartete auf den Abholservice zu einer Insel. Ich zählte meinen 30. Reisetag. In den letzten 4 Wochen war ein aufregender Tag dem nächsten gefolgt. Entweder war Reisetag. Das hieß Rucksackpacken und endlose Stunden in Bus oder Bahn; oder eine neue Stadt erkunden und die Touristeninformation aufsuchen; oder an einer Tour teilnehmen. Ständig war ich damit beschäftigt, meine weitere Reise zu planen. Ich las Reiseführer und Broschüren aus Touristeninformationen. Ich sprach mit anderen Reisenden. ‘Nur ja nichts verpassen’, war ein fester Grundsatz meiner Reiselust. Dabei verstand ich meinen Eifer gar nicht. Ich hatte Zeit – 5 Monate – ein richtiger Traumurlaub eben. Wieso also diese Hetze?

Nun saß ich auf eben dieser Terrasse und wartete. Eine tropische Insel war heute das Ziel. Neben mir saß eine Mittzwanzigerin in einem bequemen Sessel. Sie hatte die Beine hochgelegt und lass in einem Buch.

“Hallo, was machst du heute?” fragte ich.
“Hallo,” antwortete sie freundlich. “Ich? Gar nichts. Nur lesen.”
“Magst du nicht mitkommen? Ich fahre nach Lady Musgrave Island, einer Koralleninsel.”
Sie streckte sich und schüttelte den Kopf: “Ach nee, ich hab .. irgendwie .. keine Lust.”
“Warst Du schon mal dort?”
Wieder schüttelte sie den Kopf: “Nee, aber ich hab keine Lust. Ich sitze lieber hier und lese.”
Völlig verständnislos redete ich weiter auf sie ein: “Aber wenn du doch noch nicht da warst? Lesen kannst du doch immer noch.”
“Du,” sagte sie und legte das Buch weg. “Ich weiß ja auch nicht. Vor ein paar Wochen wäre ich sicherlich gerne mitgekommen. Ich bin jetzt drei Monate unterwegs. Aber jetzt? Plötzlich ist alle Reiselust aus mir gewichen. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.”
Jetzt schüttelte ich den Kopf. So wenig Interesse an den Schönheiten des Landes konnte ich nicht nachvollziehen. Da saßen andere zur selben Zeit in ihrem Büro, draußen stürmte das miese Novemberwetter durch Deutschland, und hier saß jemand in einem Sessel und hatte keine Lust auf ein tropisches Eiland? Was war das für eine Einstellung?
 

Zwei Monate später…

Seit einer Woche war ich mit einer Gruppe im Bus durch Neuseeland unterwegs. Ein wunderschön sonniger Tag, angenehme 25°C. Wir hielten auf einem kleinen Parkplatz.

“Okay,” sagte unser Fahrer, der auch gleichzeitig als Tour-Guide fungierte. “Hier hat’s eine tolle Tropfsteinhöhle, Leute. Alles aussteigen!”
Ich saß auf meinem Platz und schaute aus dem Fenster. Alle stiegen aus.
Unser Fahrer kam durch den Gang auf mich zu: “Hey Sabine! Aussteigen. Da gibt’s ne tolle Höhle anzuschauen.”
Ich starrte ihn an. Was wollte er? Ich sollte aussteigen? Wieso? Ich spürte, dass mein Hirn “abgeschaltet” hatte. Denken war nicht möglich. Ich versuchte, mich von meinem Sitz zu erheben, aber wie abgeschnitten gelangte der Befehl aufzustehen nicht hinunter in meine Beine.
“Was ist denn nun?” fragte der Fahrer.
Völlig irritiert schüttelte ich den Kopf: “Nein, ich …. ich mag lieber hier sitzen bleiben.”
Verblüfft zog er von dannen.
Was war mit mir los? Ich verstand die Welt nicht mehr. Noch am selben Morgen war ich frohen Mutes in den Bus gestiegen und hatte mich auf den Tag und die vielen Ausflüge gefreut. Jetzt saß ich hier wie festgeklebt und ließ die Gelegenheit, eine interessante Tropfsteinhöhle anzusehen, verstreichen. Doch seltsamerweise “juckte” es mich nicht. Nein, allein der Gedanke an eine weitere Sehenswürdigkeit bereitete mir Übelkeit.

Das “Phänomen” hielt noch wochenlang an.

Nach einer Woche riss ich mich zusammen und versuchte an die Daheimgebliebenen zu denken. Ich “zwang” mich, das Sightseeingprogramm wieder aufzunehmen.
 

© Foto: Laura Kluth

 

Ein “Brei” aus Erinnerungen ist nicht das, was man am Ende mit nach Hause nehmen möchte

Heute kann ich mich an die 2. Hälfte meiner Neuseelandreise kaum noch erinnern. Die einzelnen Tage verschwimmen zu einem Ganzen. Nur Fotos lassen die Erinnerung an verschiedene Orte wieder aufkommen. Aber es gibt keine Anekdoten mehr, keine Gesichter und keine interessanten Ereignisse. All das ist unwiederbringlich verschwunden!

Aber …. alle Ereignisse, alle Gesichter, alle Orte und fast alle Tage VOR dem verhängnisvollen Tag an der Tropfsteinhöhle kann ich auf Abruf aus meinen Erinnerungen hervorkramen ohne auch nur ein einziges Foto angesehen zu haben.

Das “Drei-Monats-Syndrom” ist ein Phänomen, das mich überrascht hat. Aber es scheint zu existieren. Und das nicht nur bei mir.
Das Gehirn schützt sich selbst, erklärte mir ein Psychologe Jahre später.

Die Erklärung: Neue Eindrücke, eine schöne Umgebung und angenehme Erlebnisse schmeicheln der Seele. Sie sind wie Streicheleinheiten fürs Gehirn. Ein Erholungseffekt, der nach vorheriger Stressbelastung durch Alltag, Beruf oder Studium vom Körper als sehr angenehm empfunden wird. Zu viele Eindrücke jedoch führen zu Überlagerungen, das Auseinanderhalten der einzelnen Ereignisse ist kaum noch möglich. Dies erzeugt erneuten Stress und dem will das Gehirn vorbeugen, in dem es sich weigert, weitere Eindrücke aufzunehmen und zu speichern. Der vorher aufgebaute Erholungseffekt wäre wieder gleich Null.

Und das ist gut so. Ein äußerst wichtiger Mechanismus des Körpers, denn ein “Brei” aus Erinnerungen ist nicht das, was man am Ende mit nach Hause nehmen möchte.

Am besten ist es, das “Drei-Monats-Syndrom” gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch wenn die Reise lange herbeigesehnt und vorbereitet wurde, so sollte man es dennoch äußerst ruhig angehen. Es erfordert jedoch auch eine gehörige Portion Selbstdisziplin, dem inneren Drang, gleich “ins Volle” zu gehen, nicht nachzugeben.
Auch ich litt, obwohl bereits einmal vorgewarnt, bei einer weiteren Reise erneut unter dem “Drei-Monats-Syndrom” und dieses Mal traf es mich noch heftiger als beim ersten Mal. Ergebnis: Obwohl 5 Monate geplant waren, flog ich bereits nach 3 1/2 lustlos wieder nach Hause.

Nicht bei jedem Reisenden muss das “Phänomen” genau nach 3 Monaten auftauchen. Menschen sind verschieden – die Begeisterungsfähigkeit auch. Ebenso sind Wünsche und Vorstellungen, wie man eine Reise gestaltet bei jedem anders. Oft aber lässt man sich mitziehen, wenn bei Gesprächen mit anderen Reisenden Erfahrungen ausgetauscht werden. Besonders in Australien sind Fragen wie: “Was machst Du morgen?” oder “Was hast Du schon alles gesehen?” ein ständiger Begleiter. Plötzlich ist da ein imaginärer Druck, kaum merklich, von dem man sich mitreißen lässt. Ein Teufelskreis entsteht. Ständig neue Eindrücke sind aufregend – irgend etwas in Einem schreit ständig nach mehr.

Das Ergebnis: Überall auf der Welt habe ich Reisende getroffen, die lustlos irgendwo herum saßen und gar nicht verstanden haben, wo eigentlich ihre Reiselust geblieben war.

Soll die Traumreise also wirklich eine Traumreise werden, dann ist es ratsam, auch im Urlaub seine fünf Sinne beisammenzuhalten, Selbstdisziplin zu üben – auch wenn’s schwerfällt – und ruhig mal ein paar beschauliche Tage dazwischen zu legen.
“Die Seele baumeln lassen” – dafür ist ein Urlaub schließlich da!


© Fotos: Unsplash / Colton Strickland; Laura Kluth

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Sabine Hopf

Sabine, Gründerin der Webseite "Reisebine.de", Fotografin und Chef-Redakteurin unserer Online-Redaktion. Sabine bereiste Australien seit 1987 rund 17x und kennt den roten Kontinent wahrscheinlich besser als ihre Heimatstadt Berlin.

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